EuGH kippt Verwaltungsstrafen nach Kumulationsprinzip

EuGH Judikatur / Verletzung des freien Dienstleistungsverkehrs durch Kumulationsprinzip bei Verwaltungsstrafen (AVRAG)
In den verbundenen Rechtssachen C‑64/18, C‑140/18, C-146/18 und C‑148/18 vom 12. September 2019 hat sich der EuGH mit dem Thema Verwaltungsstrafen nach der österreichischen Rechtslage AVRAG (alt) iSd Kumulationsprinzip befasst. Der EuGH hielt in dieser Entscheidung fest, dass die österreichische Regelung der Verwaltungsstrafen, die für den Fall der Nichteinhaltung von Bestimmungen bei Entsendungen (zB Bereithaltung von Lohnunterlagen) die Verhängung von Geldstrafen vorsieht,

  • die einen im Vorhinein festgelegten Betrag nicht unterschreiten dürfen,
  • die für jeden betreffenden Arbeitnehmer kumulativ und ohne Beschränkung verhängt werden,
  • zu denen im Fall der Abweisung einer gegen den Strafbescheid erhobenen Beschwerde ein Verfahrenskostenbeitrag in Höhe von 20 % der verhängten Strafe hinzutritt und
  • die im Fall der Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden

dem freien Dienstleistungsverkehr (Art 56 AEUV) entgegensteht.

Ausgangsverfahren
Im Ausgangsverfahren wurden gegen die Vorstandsmitglieder eines österreichischen Unternehmens, mangels Bereitstellung der Lohnunterlagen für 217 Arbeitskräfte Strafen in Höhe von mehreren Millionen Euro verhängt. Die außerordentliche Höhe der Strafe ergab sich aus der Kumulation von Strafen nach der Anzahl der betroffenen Mitarbeiter. Das mit den diesbezüglichen Bescheidbeschwerden betraute LVwG Steiermark legte dem EuGH die entscheidungsgegenständlichen Fragen zur Vorabentscheidung vor.

Österreichische Rechtslage
Die verfahrensgegenständlichen nationalen Bestimmungen §§ 7d und 7i AVRAG sind mittlerweile nicht mehr in Kraft, wurden jedoch weitgehend inhaltsgleich in die nunmehr auf derartige Sachverhalte einschlägigen §§ 22 und 28 LSD-BG übernommen. Auf ältere Sachverhalte werden die Bestimmungen des AVRAG nach wie vor angewendet.

7d AVRAG idF BGBl Nr 459/1993 (nunmehr § 22 LSD-BG) regelt, dass Arbeitgeber während des Zeitraumes einer Entsendung die Lohnunterlagen zur Überprüfung des nach den österreichischen Rechtsvorschriften gebührenden Entgelts des entsandten Arbeitnehmers in deutscher Sprache für die Dauer der Beschäftigung am Arbeits(Einsatz)ort bereitzuhalten haben. Bei einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung trifft diese Verpflichtung den inländischen Beschäftiger, wobei die Unterlagen vom Überlasser nachweislich bereitzustellen sind. Sofern der Arbeitgeber/Überlasser/Beschäftiger seinen diesbezüglichen Verpflichtungen nicht nachkommt, normiert § 7i AVRAG idF BGBl Nr 459/1993 (nunmehr § 28 LSD‑BG) Verwaltungsstrafen iHv EUR 1.000,00 bis EUR 10.000,00, sofern mehr als drei Arbeitnehmer betroffen sind EUR 2.000,00 bis EUR 20.000,00 jeweils pro Arbeitnehmer. Nach § 52 VwGVG ist in jedem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, mit dem ein Straferkenntnis bestätigt wird, über die Kosten des Strafverfahrens auszusprechen und zwar iHv 20 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch EUR 10,00 bei Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von einem Tag pro EUR 100,00.

Begründung des EuGH
Der EuGH hat in seiner Begründung zunächst festgestellt, dass die Regelung jedenfalls geeignet ist, den freien Dienstleistungsverkehr iSd Art 56 AEUV zu beschränken. In weiterer Folge wurde überprüft, ob die Beschränkung gerechtfertigt ist.

Nach der Entscheidung des EuGH erscheine eine Regelung, die Sanktionen vorsieht, deren Höhe von der Zahl der von der Nichteinhaltung betroffenen Arbeitnehmer abhängt, für sich genommen nicht unverhältnismäßig. Der hohe Betrag der Geldstrafen könne allerdings in Verbindung damit, dass es für sie keine Obergrenze gibt, wenn der Verstoß mehrere Arbeitskräfte betrifft, zur Verhängung beträchtlicher Geldstrafen führen. Zudem könne der Umstand, dass die Geldstrafen einen Mindestbetrag nicht unterschreiten dürfen dazu führen, dass solche Sanktionen in Fällen verhängt werden, in denen nicht erwiesen ist, dass der beanstandete Sachverhalt von besonderer Schwere ist. Darüber hinaus sehe die nationale Regelung einen Verfahrenskostenbeitrag iHv 20 % der Sanktion und die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe vor, deren Folgen für den Betroffenen von besonderer Schwere sei.

Insgesamt stehe sohin die Regelung nicht in angemessenem Verhältnis zur Schwere der geahndeten Verstöße, die in der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Einholung verwaltungsbehördlicher Genehmigungen und die Bereithaltung von Lohnunterlagen bestehen.

Darüber hinaus könne die wirksame Durchsetzung der gegenständlichen Verpflichtungen auch mit weniger einschränkenden Maßnahmen – wie der Auferlegung von geringeren Geldstrafen oder Höchstgrenzen und ohne sie mit Ersatzfreiheitsstrafen zu verknüpfen – gewährleistet werden.

Auswirkungen
Wesentliche Rechtsfolge dieser unionsrechtswidrigen Bestimmungen ist grundsätzlich eine entsprechende Unwirksamkeit im Umfang des Verstoßes gegen Unionsecht. Dabei sind unionsrechtliche Erfordernisse on das nationale Gesetz „hineinzulesen“ (VwGH 2015/04/0004). In diesem Sinne hat der VwGH in seiner Entscheidung vom 15.10.2019 Ra 2019/11/0033 bis 0034 unter Bezugnahme auf die gegenständliche EuGH-Entscheidung nunmehr entschieden, dass die gegenständlichen Strafbestimmungen weiterhin mit der Maßgabe anzuwenden seien, dass die Kumulation der Strafen bei Betroffenheit von mehreren Arbeitnehmern unangewendet bleibt und nur eine Strafe pro Verstoß verhängt wird. Eine Vielzahl an betroffenen Arbeitnehmern könne allenfalls einen Erschwerungsgrund darstellen. Somit sei auch der Verfahrenskostenbeitrag nicht unverhältnismäßig, zumal es bei geringeren Strafen nicht zu einem übermäßigen Ausmaß komme.

Es ist sohin künftig damit zu rechnen, dass sowohl im Hinblick auf ältere Sachverhalte mit der Anwendbarkeit der als unionswidrig erklärten Bestimmungen des AVRAG, als auch bei Beurteilung nach dem weitgehend inhaltsgleichen LSD‑BG – bei Vorliegen von mitgliedsstaatenübergreifenden Sachverhalten – keine Kumulation der Strafen pro Arbeitnehmer erfolgen darf. Darüber hinaus trifft den nationalen Gesetzgeber nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eine Rechtsbereinigungspflicht in Form einer Aufhebung oder Änderung der unionsrechtswidrigen Bestimmungen.

Autor: Roland Heinrich