Deutschland: Umgang mit unionsrechtswidrigen Entscheidungen in den Mitgliedstaaten - Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 10.07.2014, Rs.: C - 213/13

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat auf der Grundlage eines Ersuchens um sog. „Vorabentscheidung“ eines italienischen Gerichtes die Voraussetzungen geprüft, die einen nicht ausschreibungspflichtigen Mietvertrag von einem ausschreibungspflichtigen Bauauftrag unterscheiden. Zudem hat sich der EuGH mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen ein nationales Gericht rechtskräftige Entscheidungen, die gegen Unionsrecht verstoßen, modifizieren bzw. auslegen muss.

Zum Sachverhalt
Die Comune di Bari hatte im August 2003 eine Marktuntersuchung über die schnellstmögliche Errichtung eines neuen einheitlichen, geeigneten und angemessenen Sitzes für sämtliche Gerichte von Bari bekanntgegeben. Die Bekanntmachung enthielt einen Anhang, mit dem ein „offizieller und vollständiger Rahmen der strukturellen, funktionalen und organisatorischen Anforderungen“ (im Folgenden kurz „Anforderungsrahmen“ genannt), für die Errichtung des geplanten Gerichtskomplexes zur Verfügung gestellt werden sollte. Aufgrund der Änderung der finanziellen Rahmenbedingungen unterblieb eine Beauftragung des Bestbieters. Das Verfahren endete ohne förmliche Aufhebung oder Entscheidung, was zu der Klage des Bestbieters führte. Dieser erstritt erfolgreich eine Entscheidung des zuständigen Verwaltungsgerichts, die die Comune di Bari zum Handeln verpflichtete.

Das nationale Gericht war der Auffassung, dass das Verfahren unter Berücksichtigung der geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht beendet worden sei und entschied, dass die Comune di Bari „unter Beachtung der Grundsätze der Angemessenheit, von Treu und Glauben und des Vertrauensschutzes das Verfahren in nachvollziehbarer Weise angemessen zu Ende bringen muss, indem sie ihre eigenen Handlungen konsequent weiter führt und im Rahmen der eingegangenen Angebote prüft, ob das Gebäude innerhalb des geänderten wirtschaftlichen Rahmens errichtet werden kann“. Unberücksichtigt blieb, dass das Verfahren nicht vergaberechtskonform eingeleitet und abgewickelt worden war.

In weiterer Folge kam es zu einer Vollzugsentscheidung, nach welcher der Tenor des rechtskräftigen Urteils innerhalb einer Frist von 30 Tagen vollständig durchzuführen war. Ernannt wurde ein Kommissar für Einzelmaßnahmen, der im Fall einer andauernden Untätigkeit - gegebenenfalls mittels einer beauftragten Person - alle zur Durchführung dieses Urteils erforderlichen Handlungen vornehmen sollte.

Dieser Kommissar für Einzelmaßnahmen beschied, dass die letzte Modifizierung des Angebotes des Bestbieters gültig gewesen sei und stellte damit fest, dass das mit der Bekanntmachung der betreffenden Marktuntersuchung eingeleitete Verfahren positiv geendet habe. Die Comune di Bari verweigerte den Vollzug in Gestalt der Auftragserteilung und berief sich auf eine fehlende Übereinstimmung des letzten Angebotes mit der ursprünglich bekanntgemachten Vorgabe. Das wiederum entfachte einen Rechtsstreit, der letztlich zum Vorabentscheidungsersuchen führte.

Dem Gerichtshof stellte das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht zum einen die Frage, ob der abzuschließende Vertrag über die Vermietung eines zu errichtenden Bauprojektes ein ausschreibungspflichtiger Bauauftrag im Sinne der Richtlinie 2004/18 sei, zum anderen, wie ein nationales Gericht mit einem unionsrechtswidrigen Urteil umgehen müsse und ob es möglich sei, eine mit dem Unionsrecht unvereinbare rechtskräftige Entscheidung zu vollstrecken.

Zur Entscheidung des EuGH
Der EuGH befasste sich zunächst mit der Frage, ob der abzuschließende Mietvertrag ein ausschreibungspflichtiger Bauauftrag ist. Er gelangte zur Auffassung, dass aufgrund des Anforderungsrahmens und der konkreten Präzisierung des Bedarfes der Comune di Bari ein Bauauftrag entsprechend den Erfordernissen des Auftraggebers vorliege und dieser die Maßnahmen auch finanziere, indem er Mietzahlungen leiste.

Der Gerichtshof betonte, dass die Höhe der Vergütung des Unternehmens nicht ausschlaggebend für die betreffende Einstufung des Vertrages sei. Hauptgegenstand sei die Errichtung, da das Gebäude noch nicht stehe. Es handle sich entsprechend den Erfordernissen des öffentlichen Auftraggebers um einen Bauauftrag. Aufgrund des Anforderungsrahmens habe die Comune di Bari entscheidenden Einfluss auf die Planung des zu errichtenden Gebäudes genommen.

Weiter befasste sich der EuGH mit der Frage, ob und inwieweit ein nationales Gericht gezwungen sei, eine rechtskräftige Entscheidung, die gegen Unionsrecht verstößt, zu revidieren.

Der EuGH entschied unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung, dass das nationale Gericht verpflichtet sei zu prüfen, ob die nationalen Vorschriften eine Modifizierung des an Rechtskraft erwachsenden Urteils ermöglichen, um die Situation im Einklang mit dem nationalen Recht unionsrechtskonform auszugestalten.

Im konkreten Rechtsstreit gab es im italienischen Recht die Möglichkeit einer Modifizierung der Rechtskraft der unionsrechtswidrigen Entscheidung, zu deren Prüfung der EuGH das nationale Gericht verpflichtet. Er beantwortete die Frage damit, dass ein nationales Gericht dann, wenn es nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften dazu befugt ist, seine rechtskräftig gewordene Entscheidung, die zu einer mit den Vorschriften der Union über die Vergabe öffentlicher Aufträge unvereinbaren Situation geführt hat, entweder ergänzen oder rückgängig machen muss, um einer später vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung dieser Vorschriften Rechnung zu tragen.

Einschätzung
Die Entscheidung verpflichtet die nationalen Gerichte, eine etwaig unionsrechtswidrig ergangene Entscheidung auch trotz ihrer Rechtskraft im Einklang mit dem nationalen Prozessrecht auf eine mögliche unionsrechtskonforme Auslegung und Anpassung hin zu überprüfen. Dies gilt insbesondere auch in der Phase des Vollzugs einer Entscheidung.

Autorin: Alexandra Losch (Hannover)